Woko vom 11.10.21: Das politisch problematische Sittenbild der ÖVP Drucken
Das politisch problematische Sittenbild des Ex-Kanzlers Kurz zieht sich offenbar durch die gesamte ÖVP
Die ÖVP-Landeshauptleute und die Bünde standen und stehen geschlossen hinter dem inzwischen zurückgetretenen Bundeskanzler Kurz. Das ist nicht nur erstaunlich, es wirft auch ein nicht unproblematisches Bild auf die Parteigranden.
Es ist in der österreichischen Parteienlandschaft durchaus üblich, Einigkeit in einer Partei dann zu zeigen, wenn Angriffe von anderen Parteien die eigene Machtposition zu gefährden scheinen. Im konkreten Fall handelt es sich jedoch um Erhebungen bzw. Sachverhaltsdarstellungen, welche von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen den Ex-Kanzler getätigt werden, also von den höchsten Stellen unserer Justiz. Die sogenannten Chatverläufe zwischen Kurz und Vertrauten, welche bisher bekannt sind, zeichnen ein politisches Sittenbild eines machtbesessenen Politikers, welchem jedes Mittel recht zu sein scheint, um Kontrahenten aus dem Weg zu räumen und an die Macht zu kommen bzw. diese  Machtposition abzusichern. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht es kein Verfahren und keinen Richter. Ein solcher wird, sollte es zu einer Anklage von Kurz und seinen Mitstreitern kommen, die strafrechtlichen Konsequenzen diverser Machenschaften zu bewerten haben.
Es ist daher erstaunlich, dass die politischen Machtzentren der ÖVP auf der Ebene der Länder und Bünde gleichsam trotz dieses offen gelegten Sittenbildes des Ex-Kanzlers fest und geschlossen hinter ihm stehen. Es drängt sich für den Bürger daher unweigerlich die Frage auf, inwiefern sich das eigenes Verständnis von Politik und unlauteren Machenschaften der an diesen Machthebeln der ÖVP agierenden Personen von der des Ex-Kanzlers unterscheidet.
Diese Vorgangsweise wirft zudem ein nicht unproblematisches Bild auf die bereits Genannten, wird Kurz ja auch noch als Partei- und Klubobmann der Partei weiterhin tätig sein, also an den zentralen Stellen des Parteiapparates. Und dafür braucht es wohl auch die Zustimmung dieser sogenannten Verantwortungsträger, die nicht nur stillschweigend, sondern in offen vorgetragener Euphorie von diesen erteilt wurde. Das mutet ja gleichsam wie eine geschlossene Aufforderung der zahlreichen Parteiverantwortlichen an Kurz an, sein Verständnis von Machtpolitik nicht nur beizubehalten, sondern noch zu verfeinern. Da ist der Appell des Bundespräsidenten an die politisch Verantwortlichen im Lande, endlich zu einem anderen Politstil zurückzukehren, offensichtlich ungehört verhallt. Respekt vor einem Staatsoberhaupt und dessen Bemühungen um das Wohl des Staates und seiner Bürger sieht aus meiner Sicht anders aus. Respekt vor den Bürgern und Wählern ebenso.