Aktuelles Thema, 13.11.: Ohnmacht und Agonie der Bürger bestimmen das westliche politische System Drucken

Das amerikanische Volk hat um sich geschlagen und bei diesem Rundumschlag unbewusst das gewählt, was es zu bekämpfen vor hatte: das politische Establishment, das System von Eliten, wodurch es zum Großteil seit Jahrzehnten zu Verlierern gestempelt wird.

Die internationale Presse hat diese Ohnmacht als Abwahl des Establishments hochstilisiert, wissend, dass höchstens der eine Protagonist durch den anderen, vielleicht noch gefährlicheren ersetzt wurde. Die Intellektuellen üben sich seit der Wahl überwiegend darin, es als Unverständlichkeit zu erklären, dass das amerikanische Volk einen Populisten zum Präsidenten gekürt habe.

Was geht hier vor sich, was sind die Hintergründe eines Wahl-Megaspektakels, welches unter ähnlichen Vorzeichen in der gesamten westlichen Welt stattfindet?

Der Großteil des amerikanischen Volkes erlebt spätestens seit Ronald Regans Präsidentschaft  einen sozialen Abstieg. Seine neoliberalen Dogmen, an dessen Spitze die Trickle-down-Theorie besagt, dass die Akkumulation von Kapital sich letztlich auch positiv auf die untersten Gesellschaftsschichten auswirkt, wurde für die Mehrheit der Bevölkerung zum Alptraum. Zwar sickert tatsächlich etwas durch, wenn Vermögende immer vermögender werden, aber dieser Anteil ist wie die Vermögensverteilung in Amerika und in anderen Ländern der westlichen Welt zeigt, anteilsmäßig geradezu lächerlich. Im Vergleich zur erzielten Wertschöpfung der Gesellschaft führt sie für viele davon in die Armut, während die Vermögenden den Großteil des Kuchens für sich sichern. Nach Angaben der Weltbank waren 2013 weltweit 83% der gesamten Vermögenswerte in den Händen von 16%, 6 Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise hatte das Vermögen der Reichen um 50% zugenommen, die Finanzreserven der 374 größten multinationalen Konzerne haben sich seit 1999 verdoppelt, die Zahl der Menschen hingegen, die täglich weniger als 1,25 Dollar zur Verfügung haben, wird von der Weltbank auf 1 Milliarde geschätzt.

Bei dieser Politik ist ihnen die Mithilfe der politischen Repräsentanten gewiss: Eine der ersten Maßnahmen Regans war die Senkung der Steuersätze für die Wirtschaft und für die höchsten Einkommen. Die zahlreichen anderen Maßnahmen, welche die Regierungen der Staaten ermöglichten, um das Kapital zu unterstützen, reichen von der legalisierten Steuerhinterziehung, der Transformation von Spekulationsrisiken des Finanzkapitals auf die Völker der Staaten bis hin zum Sozialabbau und dem schlanken Staat, in dem die Pfründe der Gesellschaft Privaten anvertraut werden, damit sie davon profitieren können.

Zudem mussten die unteren Gesellschaftsschichten ihren spärlichen Anteil mit einem Preis bezahlen, welcher sie endgültig von den Eliten abhängig machte: der unkritischen Anerkennung ihrer Dogmen, an oberster Stelle die von der Freiheit des Marktes und der Schlankheit des Staatsapparates. Letzteres hat im Wesentlichen nur mehr dem ersten Dogma zu dienen. Dabei jedoch blieben nicht nur die Interessen zahlreicher Menschen auf der Strecke, sie wurden zudem von sich selbst zunehmend entfremdet.

Diese Entfremdung, Adorno nannte sie Entäußerung, äußert sich in allen westlichen Staaten ähnlich. Dem einzig geltenden - von den Staaten und den Eliten vorgegebenen - Grundsatz, nämlich dem des Marktes und einer freien Wirtschaft, wird alles untergeordnet - propagiert in allen Institutionen des noch bestehenden Staatswesens sowie in den Medien. Marktgesetze werden zu Naturgesetzen hochstilisiert, denen alle anderen Bedürfnisse der Menschen unterzuordnen sind. Die Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen findet ihre Grenze in der Funktion, welche er im Rahmen der Warengesellschaft zu erfüllen hat.

Wie sehr dieser Tod des Individuums fortgeschritten ist, zeigen nicht nur die Wahlen in den USA, sondern auch in vielen europäischen Ländern. Weil die Masse der Menschen sehr wohl weiß, dass Systemkritik sie erst recht einem überdimensional gewachsenen Gegner ausliefert, gegen den sie nur verlieren können, fallen die einen in einen Zustand der Agonie, welcher sich darin äußert, dass sie am politischen Leben nicht mehr teilnehmen. So haben  bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 42% der Wahlberechtigten ihre Stimme nicht abgegeben, bei den EU-Wahlen verzichten seit 2004 ebenfalls jeweils über 50% auf ihr Stimmrecht, auch in Österreich steigt bei Nationalrats- oder Landtagswahlen der Anteil der Nichtwähler ständig.

Die andere Reaktion der Menschen erinnert an die eines Ertrinkenden, der krampfhaft versucht eine rettende Hand zu erhaschen, ohne darauf zu achten, wessen Hand ihm gereicht wird. Das ist die Stunde der Populisten und der rechtslastigen Parteien, die dem in Nöten geratenen Bürger zu Hilfe eilen. Ob in Frankreich, in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich und in zahlreichen anderen europäischen Ländern: überall sind rechte Parteien im Vormarsch. Sie bieten dem verzweifelten Bürger vor allem zweierlei: eine einfache Erklärung für seine Misere bzw. einen Schuldigen und eine einfach scheinende Lösung. Dabei führen sie die Bürgerinnen und Bürger bewusst in die Irre, denn nicht die Ausländer, die Flüchtlinge sind die Problemverursacher, nicht ein neuer Nationalismus, das Errichten von Mauern die Lösung, sondern ein neoliberales Polit- und Wirtschaftssystem, zu deren Förderern sie selbst zählen. Im Unterschied zum Populismus eines Donald Trump haben diese rechtsextremen Protagonisten jedoch noch eine Lösung für ihren Herrschaftsanspruch parat, dessen Umsetzung anstelle des Staates letztlich ein offen autoritäres System setzt, welches durch eine ethnisch definierte Homogenität die Bürger in einer Scheinsicherheit wiegt, welches sie zu einer Gefolgschaft verführt, die - wie die Geschichte gelehrt hat - schließlich in Gewalt endet.

Dass Trump zum Präsidenten gewählt wurde, hat u.a. mit diesem Reflex von Ertrinkenden zu tun, dass er ein Populist ist, wie vielfach auch von den Medien kolportiert, entspricht auch den Tatsachen, aber das mediale Schockbewusstsein über das Wahlergebnis ist im Wesentlichen nur Ausdruck der Aufgabe, welche die Medien in der westlichen Welt seit Jahrzehnten erfüllen: eine systemkonforme Berichterstattung. In einer solchen kommt das Erstaunen gut an, eine Erklärung der Hintergründe hingegen könnte ein systemkritisches Bewusstsein schaffen, die Menschen dazu anregen, über ein System nachzudenken, vor allem aber darüber, was man tun kann, um es zu verändern.

Trump, selbst Symbol für jene Finanzeliten, die von diesem neoliberalen System profitieren und profitiert haben, wird aus eigenem Interesse und auf Druck der global agierenden Konzerne im Wesentlichen jene Politik fortsetzen, welche seine Wähler, auf deren Ohnmacht er sich zum Schein kurzfristig eingelassen hat, gerne beendet gewusst hätten. Das ist keine Katastrophe für die Eliten, im Gegenteil. Es wird sich aber zu einer weiteren Form der Agonie bei den Wählern entwickeln, wobei noch nicht abzusehen ist, wohin diese letztlich führt.

Warum aber ist im Unterschied zu den Rechtsparteien die internationale Linke so erfolglos in ihrem Kampf gegen neoliberale Politik, gegen Entdemokratisierung, gegen die Herrschaft des Kapitals? Meiner Meinung nach gibt es im Wesentlichen mehrere Erklärungen dafür.

Diese Parteien haben den ideologischen Kampf bereits zu dem Zeitpunkt verloren, als die Arbeitnehmer sich den Zwängen des Kapitalismus freiwillig unterwarfen, um so auch einen kleinen Anteil an den Gewinnen zu erhaschen. Dieser Prozess führte aber auch dazu, dass die Macht der Gewerkschaften, auf welche sich insbesondere die Arbeiterschaft stützte, sukzessive ausgehöhlt wurde. Deren Führer akzeptieren mittlerweile bei spärlich verbliebener Kritik an den Auswüchsen des neoliberalen Systems sowohl dieses selbst als auch dessen Credo vom freien Markt und schlanken Staat. Als Folge davon konnte die Linke, im Gegensatz zu den rechtspopulistisch agierenden Parteien, den Bürgern keine homogene Weltvorstellung mehr anbieten. Diese fehlende Homogenität führt letztlich auch dazu, dass sich beispielsweise eine in Griechenland an die Macht gekommene Linkspartei gezwungen sieht dem neoliberalen Druck nachzugeben, um wenigstens kurzfristig an der Macht zu bleiben.

Ein Wort noch zur Rolle der Intellektuellen an den Schulen und Universitäten der westlichen Welt. Wäre es nicht ihre Aufgabe gegen diesen Niedergang unserer Demokratien, gegen ein Wirtschaftssystem, welches den Menschen zu einer Ware degradiert, das weltweit Armut, Verzweiflung und Katastrophen produziert, anzukämpfen? Eigentlich wäre es deren Bildungsauftrag, das System kritisch zu hinterfragen, Hintergründe politischen und wirtschaftlichen Handelns bewusst zu machen, den Menschen Werkzeuge in die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie die verloren gegangenen Freiheiten wieder zurückerobern könnten. Aber in unseren Schulen wird Unterricht im Wesentlichen als Bestätigung des Systems betrieben, die Schülerinnen und Schüler auf Rollenbilder vorbereitet, welche darauf abzielen, in Fällen von Agonie und Ohnmacht das individuelle Überleben bestmöglich zu sichern.

An den Universitäten wird dieser Verbildungskurs fortgesetzt , nicht zuletzt auch deshalb, weil für die Lehrenden die eigenen Karrierechancen vielfach an diese systemische Verifikation gebunden sind.

Die Katastrophe der amerikanischen Präsidentschaftswahl besteht nicht im Wahlergebnis, dieses kam demokratisch zustande. Sie besteht darin, dass ein Demokratieverständnis so wie nahezu auch in allen westlichen Staaten über Jahrzehnte bewusst ausgehöhlt und zu einer Farce entartet wurde. Sie besteht darin, dass das Ergebnis nicht zum grundsätzlichen Hinterfragen des Systems beiträgt, sondern es bestätigt. Es hat gezeigt, wie sehr die Medien, aber auch die so genannten Intellektuellen die Bevölkerung einlullen, selbst im Interesse des Systems agieren und kaum mehr im Stande sind kritisches Bewusstsein zu entwickeln.

(Mag. Gerhard Kohlmaier, 13.11.2016, www.steuerini.at)