Woko vom 30.11.2014:Wir alle müssen umdenken! Drucken

 

 

Unser Finanzsystem hat uns eine nicht mehr zu bewältigende Systemkrise beschert. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 wurde uns systematisch vor Augen geführt, dass wir uns auf den endgültigen Systemkollaps zubewegen: die Staatsschulden der Länder explodieren ins Unermessliche, die Banken sind teilweise durch Mithilfe der Steuerzahler noch mächtiger geworden und sind neben den Großkonzernen die wahren Staatenlenker, Milliarden von Steuergeldern wurden und werden zu Finanzakteuren umverteilt, die direkten Mitbestimmungsrechte der Menschen in den Demokratien sind spürbar verringert worden, die Arbeitslosigkeit steigt in allen EU-Ländern und hat besorgniserregende Ausmaße angenommen, die Pensionsproblematik verschärft sich, die Geld- und Zinspolitik bewirkt die stille Enteignung der Menschen, die Notenbanken fungieren als Systemfeuerwehr und erreichen seit Jahren mit ihren Eingriffen in den Geldumlauf alles andere als eine Stabilität dieses Systems, Bildungs- und Wissenschaftspolitik sind längst zu einer Farce mutiert, der Sozialstaat schafft sich stückweise ab. Die derzeit diskutierten Freihandelsabkommen werden die Gesamtproblematik noch verschärfen. Die Zahl von Menschen, die sich ihre Wohnung oder die Heiz- und Stromkosten nicht mehr leisten können, nimmt zu, ebenso die Zahl derer, die bereits unter der Armutsgrenze leben müssen.

Das System ist in Wirklichkeit längst tot, aber unsere Politiker scheinen zusammen mit dem Finanzkapital und den Banken eine Vorsorgevollmacht des nahezu Verblichenen in den Händen zu halten. In dieser haben sie sich dazu verpflichtet, den Menschen vorzugaukeln, beim Sterbenden handle es sich um einen Komapatienten, der gleichsam intensivmedizinisch am künstlichen Leben erhalten werden kann, obwohl nach nunmehr sechs Jahren dieser sinnlosen intensivmedizinischen Behandlung auf Kosten der Bürger selbst dem größten Optimisten klar sein müsste, dass seine Genesung ausgeschlossen ist.

Wachstum brauche man, mehr Wachstum, dann komme alles wieder ins rechte Lot. Den Konsum müsse man anregen, dann gehe es wieder aufwärts. Mitnichten.- Endloses wirtschaftliches Wachstum gibt es nicht, auch mehr Konsum kann es bei sinkenden Haushaltseinkommen nur um den Preis von Neuverschuldungen und noch größeren Finanzproblemen geben. Noch mehr Wachstum bedeutet noch mehr unnötigen Müll, noch mehr Ressourcenverbrauch, noch mehr Müllproduktion, zunehmende Umwelt- und Klimaprobleme. Diese Wirtschaftspolitik bedeutet nicht nur den Kollaps des Wirtschaftssystems, sie begünstigt nicht nur den Zerfall unserer Demokratien, sie führt schließlich zum globalen Crash der Lebensgrundlagen für die Menschen.

Es ist längst keine Frage der Quantität mehr, wie wir in Zukunft leben wollen. Höhere Quantität schafft höchstens neue Großkonzerne und höhere Gewinne für wenige. Die Qualität unseres Wirtschaftens ist es, die zunächst in Frage zu stellen ist. Sodann müssen wir uns Gedanken über die Versorgung der Bürger, die Verteilung der vorhandenen Mittel machen, denn es ist genug da für alle. Wir müssen umdenken, weg vom Gewinnstreben um des Gewinns willen, hin zu einer Wirtschafts- und Produktionsweise, welche den Menschen wieder Identifikationen mit jenen Produkten ermöglicht, die sie herstellen. Wir brauchen ein neues Wirtschaftskonzept, das zum Wohle aller Menschen da ist, deren Zufriedenheit mehrt, die Gemeinschaft stärkt. Unter solchen geänderten Bedingungen kann früher oder später der institutionalisierte Sozialstaat unnötig werden, weil das Gemeinwesen an sich ein soziales ist.

Neoliberale Politiker und Regierungen werden diesen Wandel jedoch weder bewirken noch sich dafür einsetzen. Sie sind die Primarärzte auf der Intensivstation unseres Komapatienten, die Profiteure der Krankheit des Systems, die sie selbst mitverursacht haben.

Es kann nur jeder Einzelne von uns durch sein Engagement gemäß seiner Bedingungen und Möglichkeiten ein Umdenken bewirken. Jene, die sich dabei leichter tun und die auch über den entsprechenden Bildungsgrad sowie über Hintergrundkenntnisse verfügen, haben eine besondere Verpflichtung, auch andere mitzureißen und davon zu überzeugen, dass wir selbst die Strukturen schaffen müssen, welche einen Neuanfang im Denken und gemeinschaftsorientiertem Handeln ermöglichen. Den zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt dabei eine besondere Rolle zu. (Gerhard Kohlmaier)