Woko vom 16.11.2014: "Warum macht ihr denn nichts dagegen?" Drucken

 


Die Zeiten haben sich geändert. Konnten sich große Teile des so genannten Mittelstandes noch bis vor wenigen Jahren mit der neoliberalen Politik anfreunden, weil sie selbst glaubten zu den Gewinnern des Systems zu gehören oder sich zumindest nicht als Verlierer fühlten, so scheint die Stimmung nun umzuschlagen. „Warum macht ihr denn nichts gegen diese Politik?“ hören gerade Systemkritiker aus der Zivilgesellschaft, die sich seit Jahren gegen neoliberale Politik zur Wehr setzen und die von den Fragenden bisher als System-, Markt- und Kapitalfeinde eingeschätzt wurden, immer öfter.

Über Jahrzehnte hat die neoliberale Umverteilungspolitik nach oben den Mittelstand auch in Österreich geschwächt. Es lässt sich zwar darüber streiten, welche soziale Schicht dieser „Mitte“ der Gesellschaft angehört, aber legt man die Einkommensverhältnisse zu Grunde, dann gehören ihr ca. jene 12 Prozent der Bevölkerung an, welche zwischen 2000 und 5000 Euro brutto verdienen. („Auf der Suche nach dem Mittelstand“, Die Presse, 11.1.2008) Die über 4 Mio. unselbständig Erwerbstätigen kommen gemäß dem Einkommensbericht der Statistik Austria gerade auf einen Bruttomonatsverdienst von € 2114.-, und das incl. aller Sonderzahlungen. Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, welche immerhin 40% der Unselbständigen ausmachen, liegt der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst (exklusive der Lehrlinge) überhaupt nur bei € 1513.- (Statistik Austria, Allgemeiner Einkommensbericht 2012).

Anders verhält es sich jedoch mit der Selbsteinschätzung der Zugehörigkeit zum Mittelstand: Nach einer Studie des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung fühlen sich jedoch nur 13% der Bevölkerung nicht als Angehörige dieses Mittelstandes („Wer gehört zum Mittelstand?“, IFT, Forschungstelegramm 09/2010). Das überrascht kaum, denn wer will schon gerne jener Bevölkerungsgruppe angehören, die mit dem Stigma des materiellen Verliererdaseins gekennzeichnet ist. Dementsprechend hielt sich aber auch die Aufregung dieses teils selbst ernannten Mittelstands gegen eine neoliberale Politik, welche den Großteil der gesellschaftlichen Wertschöpfung nach oben hin, zu den wenigen Prozent der tatsächlichen Systemgewinner, zu den Reichen und Superreichen, umverteilte, in Grenzen. Im Gegenteil: Vielfach wurde das System gelobt, die Umverteilung ignoriert, politische Entscheidungen als unvermeidliche Reaktionen für die Aufrechterhaltung dieser im Wesentlichen von großen Teilen des Mittelstandes mitgetragenen Systempolitik betrachtet. Kritikern des Systems stand man naturgemäß skeptisch gegenüber.

Nun aber hat sich in den letzten Jahren, spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise, neoliberale Politik derart verschärft, dass nun selbst dieser Mittelstand eine Art von merkwürdiger Aktivität an den Tag legt, und zwar nicht deshalb, weil er diese Politik für grundsätzlich gescheitert hält, sondern vielmehr deshalb, weil er um seinen Status fürchtet und weil selbst die Versuche der Anpassung nach oben nicht mehr den gewünschten Effekt haben, sich langfristig gegen die Systemverlierer abgrenzen zu können. Berücksichtigt man die jährlichen Inflations- und Teuerungsraten, die kalte Progression, die steigenden Gebühren und Selbstbehalte, dann sinken die Gehälter und Löhne dieses Mittelstandes seit Jahren. Eine Änderung des herrschenden politischen Kurses ist nicht in Sicht, im Gegenteil, alle Indizien weisen auf eine weitere Verschlechterung der Situation hin, und das für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung.

Was also tun, fragen sich die Mittelständler? In Zeiten, wo selbst das Wahlverhalten keine Vorteile mehr zu bringen vermag, die angelegten Sparreserven täglich dezimiert werden, sind selbst die bisherigen Systemkritiker zu scheinbaren Verbündeten geworden. Scheinbar deshalb, weil es ihnen nach wie vor nicht um die Veränderung eines politischen Systems, sondern um die Bewahrung ihrer vermeintlichen Standesdünkel geht. Zwei Erhaltens- und Verhaltensrelevanten stehen zur Diskussion: Welche politische Richtung verhindert den endgültigen Abstieg in die gesellschaftspolitische Bedeutungslosigkeit - und da wäre eventuell auch eine „starke Hand“ nicht abzulehnen - oder aber wenigstens eine starke Front der Systemkritiker, welche das System zum Einlenken zwingt, damit zumindest „ihre Rechte“ gewahrt bleiben.

Letzteres bedeutet das „Warum macht ihr denn nichts dagegen?“ Nicht mehr und nicht weniger. Leider. (Gerhard Kohlmaier)